Der Neusiedler See lebt!



Wenn die winterharten Teilnehmer der Extrem Wanderung rund um den Neusiedler See in der Finsternis des frühen Morgens in Oggau starten, wissen vermutlich nicht alle, dass sie sich auf uralten Wegen bewegen. Seit tausenden Jahren führte etwas westlich des Ortes die Bernsteinstrasse über das Leithagebirge an die March und hinauf zur Ostsee. 

Text: Prof. Dr. Alfred Goldschmid   
Fotos: Archiv Nationalpark Neusiedler See - Seewinkel

Wer allerdings im Frühling kommt und vielleicht auf dem kleinen Höhenzug zwischen Oslip und Rust wandert wird überrascht und entzückt sein von der Blütenpracht der tief violetten, teils  auch blassgelben Zwergiris, die hier eines ihrer größten Vorkommen in Österreich hat. Die im Wind wogenden Kuhschellen sind dann teilweise schon verblüht, aber zwischen ihnen leuchten wie kleine Sonnen die Blüten des Frühlingsadonis. Vom höchsten Punkt hat man einen wunderbaren Blick auf die Seeniederung und den See. Auf österreichischer Seite bedeckt sein Wasser 230 km2, in Ungarn 90 km2. Nach den Kriterien der Limnologie (Süßwasserkunde) ist er eigentlich eine Lacke wegen seiner geringen Wassertiefe. Trotzdem gilt er als Europas westlichster Steppensee. Die Wanderer werden die Wulka, der größte der wenigen Zuflüsse zum See nördlich von Oggau kaum wahrnehmen. Der Wasserstand des Sees wird hauptsächlich durch Niederschlag und zu einem geringeren Teil auch durch Unterwasserquellen aufrecht erhalten. Der See ist etwa hundert Mal Im Abstand von etwa  150 Jahren trocken gefallen zuletzt 1864-1870. 

Die angrenzenden Seegemeinden überlegten bereits den Seegrund landwirtschaftlich zu nutzen, was allerdings durch den hohen Salzgehalt des Seebodens misslang. Menschen und Vieh des Ostufers litten unter dem ständig wehenden salzhaltigen Winden. Kurz darauf erreichte der See Höchststand und überschwemmte die Ufergemeinden. 1888 bis 1909 wurde zur Stabilisierung des Wasserstandes Kanäle gebaut. Der wichtigste wird Einserkanal genannt. Er leitet das Wasser zur Raab ab und bildet seit 1921 die Grenze zu Ungarn. 
Auffliegender Silberreiher




























Der an der Westküste und im südlichen Teil bis zu 3 km breite Schilfgürtel bedeckt fast die Hälfte des Sees. Im Schutz dieses Schilfwaldes brüten in Kolonien einige der in Europa schon sehr seltenen Großvögel wie der mächtige Silberreiher, der seltene und kleinere Purpurreiher, der schneeweiße Löffler mit seinem breiten Schnabel. Kaum wird man eine Rohrdommel fliegen sehen, aber ihren dumpfen Ruf kann man morgens und abends überall hören. Auch viele kleine Singvögel wie Bartmeisen, die sich akrobatisch mit gespreizten Beinen an zwei Schilfhalmen festhalten können, oder der schnarrende Drosselrohrsänger, Schilfrohrsänger und viele andere nutzen diesen gut geschützten Lebensraum. Nur im Luftbild kann man die höchst unterschiedliche Struktur des Schilfwaldes mit tieferen und seichteren Stellen, mit jüngeren und älteren Beständen erkennen. Sogar über 200 Rothirsche, Rehe und Wildschweine nützen diesen Lebensraum. Bisamratten bauen hügelartige Burgen und unzählige Spitzmäuse jagen Insekten. Rohrweihen gaukeln mit V-förmig gespreizten Flügeln auf ihrer Jagd nach Singvögeln und kleinen Säugern langsam über dem Schilf dahin. Generationen von Fischern haben schmale Kanäle, die „Schluichten“, zum offenen See vom Schilf befreit. 

Der Fischfang ist ein bedeutender Wirtschaftszweig, Karpfen und verschiedene Verwandte  des Karpfens (Weissfische) sind häufig. Auch die geschätzten Räuber Zander und Hecht sind nicht selten. Bemerkenswert ist der Sichling, ein Karpfenfisch, mit  schmalem Körper, messerartiger Bauchkante und einem hochständigen Maul, der kleine Krebstierchen des Freiwassers, Hauptanteil des Planktons, frisst. Eine Katastrophe für die heimischen Fische war das Einsetzen des Aals, dessen Fang zwar kurzfristig einen Gewinn brachte aber als Laich- und Jungfischräuber großen Schaden anrichtete. Die Aale wurden erfolgreich abgefischt und nicht wieder besetzt. Als faunenfremdes Element darf der Aal per Gesetz nicht wieder eingesetzt werden. 

Schilfrohrsänger



























Der Schilfgürtel ist die Kinderstube der Jungfische. In seinem hochproduktiven Wasser können Kleinkrebse, wie die Wasserflöhe (Daphnia) mit unglaublicher Dichte, mit nur wenige Millimeter Distanz zu einander auftreten. Dieses Nahrungsangebot nützt auch eine Pflanze, der Wasserschlauch, der seinen Stickstoffbedarf durch Einfangen der Kleinkrebse in klappenartigen Fallen, deckt. Abends  hört man aus dem Schilfgürtel überall die sanften „U“ Rufe der kleinen rotbauchigen Tieflandunke und das helle „Geknatter“ der Laubfrösche, die massenhaft hier leben. Letztere wandern nach ihrer Verwandlung aus der Kaulquappe in riesigen Scharen landeinwärts und dringen zur Überraschung vieler Menschen sogar in Häuser ein.

Nächste Station ist die uralte Stadt Rust, die ähnlich wie Oggau seit 1317 urkundlich belegt ist.1681 wurde sie durch Kaiser Leopold I. zur Freistadt erhoben. Damit erlangte die Marktgemeinde auch die hohe Gerichtsbarkeit, es kostete sie  aber 60.000 Gulden und 500 Eimer erlesenen Weines; ein Eimer enthielt 72,5 Liter zu fünf Gulden der Liter. Rust hat drei Kirchen: Die kleine gotische Fischerkirche mit wunderschönen Fresken, nicht weit davon eine große protestantische Kirche und am Hauptplatz die große katholische. Protestantismus war in diesem ehemaligen west-ungarischen Land weit verbreitet.




Wörthenlacke
Lange Lacke



























Der heute so viel gebrauchte Begriff Pannonien, bekannt geworden auch durch die wunderschönen Weisen des Geigers Toni Stricker, ist heute ein Modewort geworden; biologisch ist er nicht gerechtfertigt. Die sogenannte pannonische Region ist eine Verzahnung zwischen West und Ost. Pflanzen und Tiere Westeuropas und der Alpen erreichen hier ihre Ostgrenze, hingegen jene aus Russland und sogar Zentralasien ihre Westgrenze. Als markantes Beispiel sei hier die große nachtaktive südrussische Tarantel genannt. 

Die weiten waldfreien Flächen sind keine natürlichen Steppen, sondern sind durch Jahrhunderte lange  Beweidung entstanden. Durch den Salzgehalt der Böden war Ackerbau nur im geringen Umfang möglich. Zur Fleischversorgung Wiens, der rasch wachsenden Metropole des Habsburgerreiches wurden riesige Herden des Graurinds,  auch Steppenrind genannt über gewaltige Strecken aus Ungarn bis an die der Leitha, damals die Grenze, getrieben. Mit den Gemeinden im Seewinkel wurden Verträge geschlossen zur Auffütterung der ermüdeten Tiere. Langwierige Zollformalitäten an der alten Grenze verlängerten zusätzlich den Aufenthalt der Herden. Der Viehtrieb und die intensive Beweidung formten entscheidend die Landschaft. Nach dem Ende der freien Rinderhaltung auf den sogenannten „Hutweiden“ setzte rasch Verbuschung ein;  sogar das Schilf begann sich vom See landeinwärts auszubreiten. Zum Landschaftsmanagement entschloss sich die Nationalparkverwaltung wieder eine große Graurindherde aufzubauen, die heute südlich von Apetlon in den weiten Flächen des Sandeck lebt. Auch die in der Barockzeit gezüchteten weißen Esel auf einer Weide nicht weit vom Informationszentrum erfüllen denselben Zweck. Eine Augenweide, besonders beliebt bei Kindern sind die Mangalica (Wollschweine) zwischen Podersdorf und Illmitz. Das Freihalten der Wiesenflächen im Bereich der langen Lacke wird durch das Austreiben der Hausrinder der Gemeinde Apetlon  erreicht, dass am 1. Mai mit einem Festakt begangen wird. Sicher trugen auch die Verwüstungen der Türkenkriege zur Entstehung dieser Steppenlandschaft bei. Mehrere Dörfer jener Zeit sind verschwunden wie der Ort Zitzmannsdorf nördlich von Podersdorf, auch der heute wieder große Ort St. Andrä war Jahrhunderte lang eine Wüstung.




Säbelschnäbler

Auf den der freien Wiesenflächen brüten heute in großer Zahl Kiebitze und Feldlerchen, deren Gesang im Sommer ständig zu hören ist; die Feldlerche wurde von den Vogelkundlern zum „Vogel des Jahres 2019“ erklärt. 

Der geringe Niederschlag verbunden mit geringer Seehöhe, tiefster Punkt Österreichs mit 114 m ü.d.M. und die Abdichtung der Böden durch Tonlagen führt zu salzdynamischen  Böden, einzigartig in Mitteleuropa, dem hellen durch Salzausblühung an der Oberfläche oft weißen Solontschak und dem dunklen, humusreichen Solonetz. Hier gedeihen Salz liebende Pflanzen wie man sie nur am Meeresstrand, in Russland und Innerasien

findet. An den tiefsten Stellen bilden sich extrem seichte Lacken wie  die Lange Lacke, Wörthen Lacke, der Illmitzer Zicksee, der Obere Stinker in der Hölle und viele weitere. Kleinkrebse und Insekten und deren Larven in diesen Gewässern sind die Nahrungsbasis für die große Zahl und Vielfalt der durchziehenden Vogelwelt von April bis Mai. Große Gruppen von Rotschenkel, Kampfläufern, Alpenstrandläufer, Bruchwasserläufern machen hier Rast und futtern für ihren noch weiten Flug nach Norden bis in die Tundren Skandinaviens und Russlands. Spatzengroße Regenpfeifer rasen am Ufer der Lacken entlang. Möwen und Seeschwalben beginnen die Brutplätze zu besiedeln. Bemerkenswert sind die hochbeinigen schwarz-weißen Säbelschnäbler mit ihrem nach oben gebogenen Schnabel, mit dem sie mit wischenden Bewegungen das Wasser durchkämmen. Sie kommen sonst nur an den Meeresküsten vor. Stelzenläufer, die wie Ministörche wirken, bauen wahrscheinlich auf Grund der Klimaerwärmung eine wachsende Population auf.  Ihre eigentliche Heimat sind Afrika und der Mittelmeerraum. Ebenso kann man vielerlei Entenarten, Blässhühner und Graugänse beobachten. Die hier brütenden Graugänse wandern in strengen Wintern ab. Vielleicht werden unsere Wanderer tausende nordische Gänse, vor allem Blässgänse und Saatgänse sehen, beides Bewohner der russischen Tundra. Bei Tagesanbruch verlassen sie ihre Schlafplätze auf den Lacken und fliegen zur Nahrungsaufnahme auf die schneefreien Flächen der Wintersaaten in Niederösterreich und Ungarn.

Salz-Aster Queller Lackenrand

Salzverträgliche Pflanzen besiedeln die Böden zwischen den Lacken, wie Salzmelde, Queller und andere. Hier muss gesagt werden, dass es sich hier nicht um Kochsalz (Natrium Chlorid) handelt, sondern um Soda (Natrium Carbonat). Auf den nur wenige Zentimeter höheren Flächen als jene der Salzböden haben sich Wiesen entwickelt mit einer charakteristischen Pflanzengemeinschaft, darunter die violett blühende Königskerze, die meterhohe nickende rosa Distel, der blaue österreichische Lein, der graublaue Steppenroller und viele mehr sogar Erdorchideen wie verschiedene Knabenkräuter und in großer Dichte Spinnenragwurzen, die in Form ihrer Blüte und im Duft Insekten imitieren. 

Die Trockenwiesen besiedeln auch die putzigen kleinen Erdhörnchen, die Ziesel, die in großen Kolonien leben, in unterirdischen Bauten in welchen sie den langen Winter überstehen. Hoch aufgerichtet beobachten sie die Umgebung ob nicht Greifvögel oder der gefährliche Steppeniltis zu sehen ist. Sie lieben das Sonnenlicht, an trüben, regnerischen Tagen verlassen sie kaum ihre Bauten.  In der Netzhaut ihrer großen Augen findet man nur Sinneszellen für Farbsehen und Starklicht.  Seit wenigen Jahren ist auch der Wärme liebende Goldschakal über den Balkan bis hierher vorgedrungen und hat sich nachweislich vermehrt. 

Wer einen Abstecher in den Hanság (Waasen) macht – ein verlandeter Ostteil des Sees– kann dort den schwersten flugfähigen Vogel der Welt beobachten: die Großtrappe. Zwischen den beiden Strassen von Andau und Tadten zum Einserkanal liegt ein gut einschaubares Balz- und Brutgebiet dieser Vögel. Die Hähne werden bis 17 kg schwer. Als Kranichvögel haben sie eine extreme Balz. Sie drehen die weiße Unterseite der Flügel nach oben, plustern sich auf, sodass der Hahn zu einer weiß leuchtenden, stolzierenden Kugel wird, weithin erkennbar für die Hennen in dieser Ebene. Durch erfolgreiche Schutzmassnahmen ist die Trappenpopulation im Raum Slowakei, Niederösterreich, Burgenland und Ungarn auf 480 Tiere angewachsen.


Rastplatz - vom Turm Hölle










Das Infozentrum des Nationalparks in Illmitz bietet reichhaltige Informationen und Unterlagen für jeden interessierten Besucher. Vierteljährlich erscheint die Zeitschrift „Geschnatter“ die jeweils zu einem bestimmten Thema neueste Forschungsergebnisse, aber auch Information zu Kulinarik und Tourismus beinhaltet.

Das Burgenland ist als jüngstes Bundesland Österreichs nach schlimmen Wirren 1922 endgültig von Ungarn getrennt worden. Die „Zitzmannsdorfer Wiesen“ wurden schon 1930 zum Naturschutzgebiet erklärt,  später folgten andere wie das Gebiet der „Langen Lacke“. Die Naturschützer hatten es nicht leicht gegen agrarische und verkehrs- und siedlungspolitische Interessen. Als Österreich gemeinsam mit dem Burgenland den Bau einer Strasse aus dem Seewinkel an das Westufer beschloss mit einer Brücke zwischen Illmitz und Mörbisch, der engsten Stelle des Sees, kam es zu heftigen auch internationalen Protesten. Das Projekt wurde fallen gelassen, es kam zum Umdenken. 1993 wurde dann der Nationalpark Neusiedler See – Seewinkel errichtet und 2001 zum Weltkulturerbe erklärt. Betont sei hier die gute bilaterale Zusammenarbeit mit den ungarischen Behörden und den ungarischen Naturschützern und Ökologen. Die Ratifizierung der Erhebung zum Weltkulturerbe wurde 2003 in Pamhagen und im ungarischen Schloss Esterházy  feierlich begangen. Das Burgenland und die angrenzende Region Ungarns besitzen damit ein unschätzbares Naturjuwel, aber haben auch große Verantwortung und Verpflichtung für die Nachwelt übernommen.

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